BEITRAG

 

Studie belegt gigantisches Ausmaß der Selektion

Die Präimplantationsdiagnostik (PID) sei ein „menschenfreundliches medizinisches Verfahren, das schwere Schwangerschaftskonflikte vermeiden hilft und erblich schwer vorbelasteten Eltern das Ja zum Kind erleichtert“, behauptet Peter Hintze. Zur Ehrenrettung des CDU-Politikers sei ausdrücklich vermerkt, dass Hintze in den im Reagenzglas gezeugten Embryonen keine Menschen im Frühstadium ihrer Entwicklung zu erblicken vermag. Mehr noch: Peter Hintze hält es erklärtermaßen für falsch, dass Menschen statt von die „befruchteten Eizellen“ auch von „embryonalen Menschen“ oder „Menschen im Embryonalstadium“ sprechen.

Nun mag man bedauern, dass Peter Hintze bisher keine Erklärung dafür vorgelegt hat, was dafür verantwortlich ist, dass aus der 1949 gezeugten „Zygote“ – so wird in der medizinischen Fachsprache die befruchtete Eizelle genannt – der am 25. April 1950 geborene, derzeitige Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft und Technologie wurde. Mehr noch: Man mag es sogar als frustrierend empfinden, dass der frühere evangelische Pastor sein diesbezügliches Herrschaftswissen derart eifersüchtig hütet, wo sich praktisch alle Welt den Kopf darüber zerbricht, wie aus einer „Sache“ eine „Person“ und aus einem „etwas“ ein „jemand“ wird. Doch wer fair sein will, der darf Hintzes Behauptung, die PID sei „ein menschenfreundliches medizinisches Verfahren, das schwere Schwangerschaftskonflikte vermeiden hilft und erblich schwer vorbelasteten Eltern das Ja zum Kind erleichtert“, nur auf die Eltern beziehen.

Soll also niemand sagen, Befürworter einer Zulassung der PID wie Hintze seien lediglich rhetorisch bestens beschlagene Zyniker, die die gigantische Selektion von menschlichen Embryonen zu verschleiern und mit sympathischen Vokabeln zumutbar zu machen suchten. Gleichwohl gibt es gute Gründe, daran zu zweifeln, dass die PID ein „menschenfreundliches medizinisches Verfahren“ ist. Und zwar selbst dann, wenn man Hintzes unbewiesene Behauptung, die befruchtete Eizelle sei kein Mensch, in Rechnung stellt, wie eine Auswertung der Daten zeigt, welche die Europäische Gesellschaft für Humanreproduktion und Embryologie (ESHRE) im November 2010 in der Zeitschrift „Human Reproduction“ veröffentlicht hat.

Diese Studie liefert nicht nur eine Übersicht der jüngsten Daten, die 57 der über den ganzen Globus verteilten reproduktionsmedizinischen Zentren, die die PID anbieten, an die ESHRE gemeldet haben, sie enthüllt auch das gigantische Ausmaß der Selektion, die mit der PID nach künstlicher Befruchtung einhergeht. Laut der Studie wurden allen Frauen, die sich in den 57 Zentren von Januar bis Dezember 2007 einer künstlichen Befruchtung unterzogen, insgesamt 68.568 Eizellen entnommen. 56.325 von ihnen wurden befruchtet. In 40.713 Fällen führte dies zur erfolgreichen Labor-Zeugung eines menschlichen Embryos oder – um es mit dem von Hintze für korrekt erachteten Vokabular zu sagen – zu einer Zygote. 31.867 von ihnen wurden anschließend einer Biopsie unterzogen. „Erfolgreich“ überlebten diese lediglich 31.520. Von ihnen wiederum wurden 28.998 einer PID unterzogen. Lediglich 10.084 galten anschließend als „transferierbar“.

Tatsächlich transferiert in die Gebärmutter einer Frau wurden jedoch nur 7.183. Weitere 1.386 wurden „auf Eis gelegt“ und in flüssigem Stickstoff eingefroren. Über das, was mit den restlichen 1.515 Embryonen geschah, schweigt sich die Studie aus. Kenner der Reproduktionsmedizin wissen jedoch, dass es faktisch nur ein Schicksal gibt, das diese Embryonen ereilt haben kann. Da sich nämlich meist erst beim Auftauen der Embryonen herausstellt, ob diese das Einfrieren überlebt haben, muss davon ausgegangen werden, dass die 1.515 Embryonen von ihren Eltern als „überzählig“ eingestuft und – wie dies etwa in den USA und in Großbritannien möglich ist – deshalb der Forschung zugunsten der Produktion embryonaler Stammzelllinien „gewidmet“ wurden. Wie auch immer: Bei den 7.183 tatsächlich transferierten Embryonen kam es lediglich in 1.609 Fällen auch zu einer klinisch nachweisbaren Schwangerschaft. Diese mündeten wiederum lediglich in 977 Fällen auch in eine Geburt, bei denen die Mütter insgesamt 1.206 Kinder lebend zur Welt brachten. Daraus folgt: In rund 400 Fällen kam es trotz PID entweder zu Spontanaborten, Totgeburten, Abtreibungen oder so genannten Fetoziden.

Dem aufmerksamen Leser mag es vielleicht paradox erscheinen, dass die von der ESHRE publizierten Daten einerseits eine massenhafte Selektion von Embryonen im Reagenzglas belegen und andererseits zugleich ein erstaunliches Maß an Zwillings- und Drillingsgeburten dokumentieren. Verständlich wird dies erst, wenn man weiß, dass die Chance, dass eine Frau nach künstlicher Befruchtung, sofern sie überhaupt schwanger wird, gleich „Mehrlinge“ bekommt, rund 20 Mal so hoch ist wie bei einer natürlichen Zeugung. Grund hierfür ist die unnatürlich hohe und gesundheitlich belastende Gabe von Hormonen, die den Frauen im Vorfeld einer künstlichen Befruchtung verabreicht werden, damit sie statt der von der Natur vorgesehen einen, möglichst viele Eizellen gleichzeitig zur Reifung bringt.

Tragischerweise vermag nicht einmal das hier und da mehrfache Mutterglück bei Kennern der Reproduktionsmedizin ungeteilte Freude über den Erfolg der ansonsten relativ ineffektiven Zeugungsmethode auszulösen. (Bei sämtlichen Verfahren der künstlichen Befruchtung beträgt die so genannte „baby-take-home-Rate maximal 20 Prozent.) Getrübt wird die Freude vor allem dadurch, dass in der Praxis die so genannten „Mehrlinge“ von Ärzten und Eltern nicht selten als „medizinische Fehlleistungen“ der assistierten Reproduktion betrachtet werden, die es durch „fetale Reduktionen“ zu „korrigieren“ gilt, wie man in der von Hintze bevorzugten medizinischen Fachsprache sagt.

Als Mittel der Wahl wird dazu von den Ärzten der schon erwähnte Fetozid betrachtet. Bei ihm durchsticht der Arzt mit einer langen Nadel die Bauchdecke der Schwangeren, sucht unter Ultraschallansicht das etwa kirschkerngroße Herz des Kindes, sticht zu und spritzt eine Kalium-Chlorid-Lösung hinein, die jede koordinierte Kontraktion des Herzmuskels unmöglich macht. Nach ein bis zwei Minuten stirbt der Embryo im Mutterleib an „Herzversagen“. Dass die ESHRE-Studie – anders als etwa das Deutsche IVF-Register – sich über Fetozide völlig ausschweigt, bedeutet nicht, dass sie überhaupt keinen Aufschluss darüber gibt, in wieweit die PID „schwere Schwangerschaftskonflikte“ zu vermeiden hilft. Denn wie die Studie zeigt, wurde das Ergebnis der PID, bei mehr als einem Viertel der Embryonen (27,4 Prozent), die ihr unterzogen wurden, noch einmal durch Methoden der Pränatalen Diagnostik überprüft.

Fassen wir das bisher Gesagte kurz zusammen: Die der PID vorausgehende künstliche Befruchtung ist auch mehr als ein Vierteljahrhundert nach ihrer Erfindung aufgrund der geringen Erfolgsrate ein höchst ineffektives Verfahren, das wegen der hohen verabreichten Hormondosen erhebliche gesundheitliche Risiken für die Frauen mit sich bringt, die sich ihm unterziehen. In rund einem Viertel der Fälle erspart sie den Eltern weder Spontantaborte und Totgeburten noch Schwangerschaftskonflikte und Pränatale Diagnostik. Im Gegenteil: Dort wo die künstliche Befruchtung mit einem Übererfolg einhergeht, gebiert sie einen zusätzlichen Konflikt. Was dieser Konflikt vor allem mit den schwangeren Frauen macht, kann – starke Nerven vorausgesetzt – wer will, in der vom „ABC-Club“, einem Selbsthilfe-Verein für Eltern von Mehrlingen, herausgegebenen Broschüre „Fetozid – Gedanken – Erfahrungen“ nachlesen.

Es gibt also gute Gründe Peter Hitzes Defintion der PID als „menschenfreundliches medizinisches Verfahren“, „das schwere Schwangerschaftskonflikte vermeiden hilft und erblich schwer vorbelasteten Eltern das Ja zum Kind erleichtert“, auch mit Blick auf die Eltern für ziemlich blauäugig zu halten. Geht man nun noch, anders als Hintze, davon aus, dass die Zygote keineswegs „simsalabim“ vom „Nicht-Menschen“ zum „Schon-Menschen“ mutiert, sondern davon, dass sich der Mensch, wie die Embryologie längst überwiegend lehrt, „als“ Mensch entwickelt, dann kann von einem „menschenfreundlichen medizinischen Verfahren“ erst Recht keine Rede sein. Denn dann müssen den 1.609 geboren Kindern, die sich einer Laborzeugung in einem der über den Globus verstreuten 57 PID-Zentren verdanken, 39.014 Embryonen beiseite gestellt werden, die einzig und allein zu diesem Zweck gezeugt wurden, jedoch niemals das Licht der Welt erblicken werden.

Auch das von Befürwortern der PID an dieser Stelle gerne zur Rechtfertigung angeführte „Argument“, die „Natur selektiere schließlich auch“ – gemeint ist, dass sich auch bei einem Verzicht auf Kontrazeptiva nicht jeder natürlich gezeugte Embryo erfolgreich in eine Gebärmutter einnistet und dort bis zur Geburt verbleibt – sticht nicht. Denn wer meint, so argumentieren zu dürfen, der begeht tatsächlich den klassischen naturalistischen Fehlschluss. Er könnte genauso gut behaupten, aus der Tatsache, dass Stürme bisweilen Ziegel von den Dächern der Häuser fegen, die Menschen hier und da auch tödlich treffen, folge, dass der Gesetzgeber auch Menschen erlauben müsse, Ziegel vom Dach zu werfen, ohne sich für etwaige Kollateralschäden verantworten zu müssen.

Von Menschen vollbrachte Taten – das wird sicher auch Peter Hintze zugestehen – müssen sich, anders als das „Handeln“ der Natur, stets rechtfertigen lassen. Dass Peter Hintze zu den Menschen zählt, die glauben, die PID könne gerechtfertigt werden, hängt wesentlich mit seiner persönlichen Definition der befruchteten Eizelle zusammen. Dass er die PID zudem für „ein menschenfreundliches medizinischen Verfahren“ hält, „das schwere Schwangerschaftskonflikte vermeiden hilft und erblich schwer vorbelasteten Eltern das Ja zum Kind erleichtert“, kann dagegen nur daran liegen, dass er den Fakten einfach noch nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt hat.

IM PORTRAIT

Stefan Rehder

Stefan Rehder, geboren 1967 in Düsseldorf, ist Journalist und Sachbuchautor (2010: „Grauzone Hirntod – Organspende verantworten“) mit den Schwerpunkten Lebensrecht, Bioethik und Biomedizin. 2007 erschien sein Buch „Gott spielen – Im Supermarkt der Gentechnik“, in dem er sich auch mit der künstlichen Befruchtung, der PID und dem Fetozid auseinandersetzt.