KOMMENTAR

 

Rom ante portas

Gut neun Monate Jahr lang warben an dieser Stelle mehrere Lebensrechtsorganisation gemeinsam mit anderen für ein gesetzliches Verbot der Präimplantationsdiagnostik (PID), werteten wissenschaftliche Studien aus, widerlegten jedes der ohnehin eher schwachen Argumente der PID-Befürworter, baten Prominente um Statements, begleiteten und kommentierten die Debatte in den überregionalen deutschen Medien, Sie demonstrierten vor dem Bundestag, organisierten Vortragsveranstaltungen, schrieben Briefe an Bundestagsabgeordnete und Redaktionen, verabschiedeten Stellungnahmen und Resolutionen.

Besucher des Internet-Portals www.abgeordnetencheck.de verschickten rund 70.000 E-Mail-Petitionen an die Abgeordneten ihres Wahlkreises und baten die gewählten Volksvertreter, im Bundestag für ein Verbot der PID zu stimmen. Die Kirchen demonstrierten eine konfessionsübergreifende Geschlossenheit wie selten zuvor. Zahlreiche katholische und protestantische Bischöfe wandten sich gemeinsam und einzeln, persönlich und öffentlich an die Parlamentarier. Von einer gespaltenen Christenheit konnte bei der PID – anderes als noch bei der Frage nach dem Import embryonaler Stammzellen – keine Rede sein. Den Kirchen nahe stehende Verbände und selbst Sozial- und Behindertenverbände, die auf Distanz zu den Kirchen und den überwiegend christlichen Lebensrechtlern bedacht sind, warben für ein umfassendes Verbot der Auswahl im Labor erzeugter Menschen. Erfolgreich war all das letztlich nicht.

Ist der Lebensschutz nun am Ende? Sind Lebensrechtler auf ganzer Linie gescheitert? Welche Antworten nach Lage der Dinge auf diese Fragen zu geben sind, das hängt ganz davon ab, was als „Lebensschutz“ und was als „Scheitern“ betrachtet werden muss. Eines ist aber ganz sicher: Ein wirksamer Schutz vorgeburtlichen Lebens oder treffender, des embryonalen Menschen, ist mit der Entscheidung des Bundestags zur PID in sehr weite Ferne gerückt worden.


Vorwärts in die Vergangenheit – Was die PID mit dem antiken Rom zu tun hat

Wer das für einen Fortschritt hielte, der offenbart damit nur, dass er kaum Ahnung von Geschichte besitzt. Wer sich ein wenig auskennt, muss sich ins antike Rom zurückversetzt fühlen, das zwar Bürger-, aber keine Menschenrechte kannte. Bis hinein ins vierte Jahrhundert nach Christus legte man im Römischen Reich, das freilich weder über die Möglichkeit der Pränatale Diagnostik (PND) noch der PID verfügte, die Kinder nach ihrer Geburt dem „pater familias“ zu Füßen. Nach römischem Recht besaß dieser die „patria potestas“ und damit die uneingeschränkte Verfügungsgewalt über die Familie.

Hob der pater familias ein Neugeborenes auf, war es in den Kreis der Familie aufgenommen, erhielt Nahrung, einen Namen sowie Erziehung und Bildung. Verweigerte der pater familias dagegen die Aufnahme – was nicht selten bei unehelichen, behinderten Kindern sowie Mädchen geschah – wurde das neugeborene Kind auf einem öffentlichen Müllplatz ausgesetzt. Dort fiel es entweder den Wölfen zum Opfer, starb ohne äußere Gewaltanwendung oder wurde – im besten Fall – von Fremden mitgenommen und als Sklave aufgezogen.

In den sich für zivilisiert haltenden, Industrienationen, in denen die einst prägende Kraft des Christentums scheinbar unaufhaltsam schwindet, entscheiden mittlerweile die Frauen – nicht selten freilich gedrängt von den Vätern – darüber, ob sie ein Kind annehmen oder nicht. Aus Sicht der Frau, über deren Kopf und Herz Männer im antiken Rom hinweg nach Belieben entscheiden konnten, mag sowohl die Verlagerung der Macht, als auch die Verlagerung des Zeitpunktes – vor die Geburt bei der Abtreibung beziehungsweise vor die Nidation bei der PID – unter Umständen durchaus als Fortschritt betrachtet werden. Aus der Perspektive der Menschenrechte ist es jedoch – ebenso wie auch der Embryos – letztlich völlig unerheblich, wer vom Gesetzgeber ermächtigt wird, einem anderen das Recht auf Weiterleben zu verweigern und welcher Zeitpunkt dafür am besten geeignet zu sein scheint.


PID und die Folgen für den Embryonenschutz

Bot der vom Embryonenschutzgesetz (ESchG) bis vor kurzem garantierte Schutz des Embryos in der Petrischale Lebensrechtlern noch die Hoffnung, bei der Abtreibungsgesetzgebung Korrekturen erreichen zu können, so sind diese durch die Zulassung der PID nun wohl zunächst zunichte gemacht. Und doch ist der Lebensschutz keinesfalls am Ende. Zunächst weil er sich ja nicht ausschließlich auf den Schutz des ungeborenen Menschen erstreckt, auch wenn diese sich am wenigsten gegen die tödliche Verweigerung ihrer Annahme wehren können. Denn überall in Europa ist die Euthanasie gewaltig auf dem Vormarsch. Dass der 114. Deutsche Ärztetag Anfang Juni in Kiel nach langer Debatte noch einmal feststellte, dass sowohl die Tötung auf Verlangen als auch der assistierte Suizid unvereinbar mit dem Auftrag und Ethos des Arztes ist, ist sicher erfreulich, aber kein Grund zur Entwarnung. Die Gefahr, dass auch bei uns die Euthanasie salonfähig wird, sollte nicht unterschätzt werden.


Kinder als Teil des modernen Lifestyle

So dann ist die Schlacht um den Schutz des Lebens ungeborener Menschen mit der Zulassung der PID, die durchaus auch als eine Form der Früheuthanasie betrachtet werden kann, ja keineswegs beendet. Dies schon deshalb nicht, weil ein Teil der PID-Befürworter noch ganz andere Pläne hat: Sie wollen das ESchG kippen und durch ein Fortpflanzungsmedizingesetz ersetzen, dass dann etwa auch die Eizellspende und die Leihmutterschaft erlauben und die Laborzeugung auch für Homosexuelle öffnen soll. Kinder sind, das muss man nüchtern feststellen, heute für viele längst keine „Gaben“ mehr, die man – „Gott“ oder der „Natur“ dankend –annimmt, wenn und wie sie einem geschenkt werden. Sie sind – oder eben auch nicht – Teil des persönliches Lebensentwurfes und gehören gewissermaßen, wenn auch häufig völlig unreflektiert wie Urlaub, Autos, Handys oder Haustiere, zum persönlichen Lifestyle.

Es geht daher auch an der Realität vorbei, den Grund für die Niederlagen, die die Lebensschutzbewegung in den letzten 30 Jahren, bei der Abtreibung, der embryonalen Stammzellforschung und jetzt der PID hinnehmen mussten, in deren Strukturen zu suchen. Es mag sein, dass die überwiegend ehrenamtlich agierenden Lebensrechtlern mit Stäben aus hauptamtlichen Mitarbeitern ähnlich kampagnenfähig würden, wie etwa die Homo-Lobby. Doch zeigt gerade das Beispiel der PID, dass auch mit kostspieligen Kampagnen kein Sieg errungen werden kann, wenn die „Gatekeeper“, die über Zugang zu TV-Sendern, Hörfunkkanälen und Verlagshäusern wachen, ihre Schotten dicht machen und die Botschaft, die ja nicht nach Belieben verändert werden kann, auf versteinerte Herzen und ausgetrocknete Hirne trifft.


Das strukturelle Problem des Lebensschutzes: Die Herzenskälte der Geborenen

Wer die Lebensrechtsbewegung in Deutschland in den letzten Jahrzehnten begleitet hat, sei es als Beobachter, sei es als Teil von ihr, der weiß, dass hier trotz überwiegend ehrenamtlicher Strukturen eine enorme Professionalisierung stattgefunden hat, die längst alle Ebenen umfasst. Von der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, der Aufklärungsarbeit in Schulen und Pfarreien, bis hin zum Einwerben von Spendengeldern. Das strukturelle Problem des Lebensschutzes ist letztlich weder ein organisatorisches noch ein finanzielles, auch wenn sich hier durchaus noch manches verbessern ließe. Das strukturelle Problem besteht in der Herzenskälte vieler Menschen.

Ein Mehr an Lebensschutz, der sich auch in Gesetzen niederschlägt, lässt sich daher nur durch einen Wandel der Herzen erreichen. Und es gibt keinen Grund, anzunehmen, dass das, was im antiken Rom gelang, in Deutschland unmöglich wäre. Bis dahin aber wird der Lebensrechtsbewegung nichts anderes übrig bleiben, als zu versuchen, den Vormarsch der „Kultur des Todes“ zu bremsen und den Eintritt des Schlimmsten jeweils zu vermeiden oder zumindest zu verzögern.

 

IM PORTRAIT

Stefan Rehder

Stefan Rehder, geboren 1967 in Düsseldorf, ist Journalist und Sachbuchautor (2010: „Grauzone Hirntod – Organspende verantworten“) mit den Schwerpunkten Lebensrecht, Bioethik und Biomedizin. 2007 erschien sein Buch „Gott spielen – Im Supermarkt der Gentechnik“, in dem er sich auch mit der künstlichen Befruchtung, der PID und dem Fetozid auseinandersetzt.