BEITRAG

„Der belastete Embryo muss sterben.“

Es kommt nicht oft vor, dass sämtliche Mitglieder der Bundesregierung – angefangen von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) bis zur Bundesministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ilse Aigner (CSU) – einen Brief identischen Inhalts in ihrer Post vorfinden. Außergewöhnlich aber ist es, wenn die Kabinettsmitglieder in einem solchen Brief statt mit ihrer Amtsbezeichnung mit „liebe Schwestern und Brüder“ angesprochen werden. Die eigentliche Sensation des Schreibens, das vorgestern an alle Bundesministerinnen und Bundesminister sowie sämtliche hessischen Bundestagsabgeordneten verschickt wurde, ist dennoch eine andere. Denn das Schreiben trägt die Unterschriften von gleich zwei Bischöfen, die, weil sie jeweils Kirchen angehören, die nicht nur das Bischofsamt unterschiedlich interpretieren, allenfalls dem Titel nach auch „Amtsbrüder“ sind. Dieser Umstand hinderte freilich weder den Oberhirten des Bistums Fulda Bischof, Heinz Josef Algermissen, noch den Bischof der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck, Martin Hein, sich in sichtbarer ökumenischer Eintracht mit einem gemeinsamen Anliegen an die Politiker zu wenden, bei dem die beiden großen christlichen Konfessionen zuletzt nicht immer einer Meinung zu sein schienen: Dem Schutz des Lebens künstlich erzeugter Embryonen.

Entstanden war dieser Eindruck unmittelbar nachdem der ehemalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirchen in Deutschland (EKD), Bischof Wolfgang Huber, Ende 2007, Anfang 2008 wiederholt ohne erkennbare Not öffentlich für eine einmalige Verlegung des im Stammzellgesetz festgeschriebenen Stichtags geworben hatte. Obwohl sich damals neben dem geschlossenen katholischen Episkopat auch zahlreiche protestantische Bischöfe öffentlich gegen eine Verlegung des Stichtags gewandt hatten, bis zu dem deutsche Forscher im Ausland aus getöteten Embryonen hergestellte embryonale Stammzelllinien für inländische Forschungsprojekte importieren können sollten, setzte sich in weiten Teilen der Medien und der Politik die Lesart durch, die beiden großen christlichen Konfessionen verträten bei der ethischen Bewertung einer embryonale Menschen verbrauchende Forschung konträre Ansichten.
Das hatte weitreichende Folgen: Der Eindruck der Uneinigkeit von Katholiken und Protestanten in einer derart fundamentalen ethischen Frage hielt zahlreiche kirchenferne Parlamentarier davon ab, sich eingehender mit den inhaltlichen Einwänden zu beschäftigten, die gegen die massive Lobbyarbeit, mit der die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) für die Stichtagsverlegung warb, erhoben wurden. Damit nicht genug: Nicht wenige Parlamentarier, allen voran jene Abgeordneten der Union, die für eine Stichtagsverschiebung gestimmt hatten, rechtfertigten nach der entscheidenden Abstimmung im Parlament ihr Votum unter anderen damit, man könne als Christ, wie das Beispiel der Kirchen zeige, in der Frage der Stichtagsverlegung eben durchaus unterschiedlicher Ansicht sein.

Ein Szenario, das sich bei der gesetzlichen Regelung der Präimplantationsdiagnostik (PID) wiederholen könnte, wie nicht zuletzt der Bundesparteitag der CDU Mitte November in Karlsruhe gezeigt hatte. Denn dort sprachen sich die CDU-Delegierten mit 408 gegen 391 Stimmen nur knapp für ein gesetzliches Verbot der PID aus. Und auch an Parallelen zum Stammzellentscheid mangelt es nicht. Nicht nur, dass der derzeitige Ratsvorsitzende der EKD, Präses Nikolaus Schneider, mehrfach Sympathien für eine begrenzte Zulassung der PID erkennen ließ, die Reproduktionsmediziner stehen der DFG in Sachen Lobbyarbeit kaum nach. Sowohl die Nationale Akademie der Wissenschaften als auch die Bundesärztekammer haben sich in merkwürdig zustande gekommenen Stellungnahmen bereits für eine Zulassung der PID ausgesprochen.

Da kommt ein Brief, wie der von Algermissen und Hein, gerade zur rechten Zeit. Dies umso mehr als die Initiatoren der drei interfraktionellen Gesetzentwürfe in diesen Tagen bei ihren Abgeordneten-Kollegen um jene Unterschriften werben, die erforderlich sind, um sie in den Bundestag einbringen zu können. Anders als in ökumenischen Papieren üblich kommen die Bischöfe in ihrem Schreiben gleich zur Sache. Bereits im ersten Absatz machen sie deutlich, was sie an der PID stört: „Der genetisch belastete Embryo muss sterben“, beschließen Algermissen und Hein die Definition der PID als „medizinisches Verfahren“, das dazu dient, „Embryonen mit Gendefekt auszusondern und nur einen erbgesunden Embryo in den Mutterleib zu übertragen.“ Auch Richtlinien änderten „nichts an der Tatsache“, dass bei der PID „menschliches Leben nach bestimmten Merkmalen ausgewählt wird.“ Daher berühre „die Entscheidung über die PID den Umgang mit menschlichem Leben in unserer Gesellschaft überhaupt.“ Die Bischöfe bitten die Politiker „diese grundsätzliche Reichweite“ zu bedenken und führen dann „drei Argumente“ aus, „die gegen die Zulassung der PID sprechen“, und die sie „für besonders erwägenswert“ erachten.

Den Anfang machen sehr verständliche gehaltene Überlegungen zu dem, was Philosophen als das Identitätsargument zu bezeichnen pflegen. In ihrem Schreiben an die Politiker liest sich das bei Algermissen und Hein so: Wer „sich selbst verstehen“ wolle, müsse „das eigene Dasein anerkennend voraussetzen“. Und: „Es lässt sich kein Zeitpunkt unseres Lebens denken, in dem wir noch nicht wir selber waren, und es wird, solange wir leben, auch keinen Zeitpunkt geben, an dem wir nicht mehr wir selber sind.“ Für das eigene Leben nähmen alle Menschen die Würde in Anspruch, „ein eigener Mensch“ zu sein. Diese Würde dürfe einem von niemanden genommen werden, schreiben Algermissen und Hein und folgern: „Was aber für uns unumstößlich gilt, können wir auch anderen nicht absprechen. Denn das hieße ja, ihnen das Menschsein absprechen“. Wer sich „selbst von Anfang an achtet, anderen dagegen diese Anerkennung von Anfang an abspricht“, errichte „eine moralisch nicht zu begründende Herrschaft der Geborenen über die Ungeborenen.“ Die PID versage „dem zu untersuchenden menschlichen Leben diese unbedingte Anerkennung vom Beginn des Lebens an, weil sie sie von einer Gesundheitsprognose abhängig macht.“

In ihrem Schreiben setzten sich die Algermissen und Hein auch mit dem Modell des „abgestuften Lebensschutzes“ auseinander. In der öffentlichen Debatte gebe es „Versuche, dem Menschen je nach Entwicklungsstand und Kompetenzen unterschiedliche Schutzrechte und Achtungsgrade zuzuschreiben“. Dem Modell des abgestuften Lebensschutzes zufolge dürfen „Embryonen, denen die Eigenschaften der Empfindungs-, Denk- und Selbstreflexionsfähigkeit fehlen, Abwägungsurteilen unterzogen werden, die sich bei empfindungsfähigen, denkenden und selbstbewussten Menschen grundsätzlich“ verbieten. Die Bischöfe halten dagegen: „Ein solcherart abgestufter Lebensschutz bedeutet: Menschen können nicht mehr kategorisch mit Achtung und Schutz rechnen, sondern nur nach Maßgabe beobachtbarer Eigenschaften. Menschenwürde besäßen wir dann nicht mehr grundsätzlich, sondern nur noch unter bestimmten Bedingungen.“ Mit der „Zulassung der PID“ würden „Menschen nur unter dem Vorbehalt ihrer künftigen Gesundheit“ als „schützenswert“ betrachtet. Algermissen und Hein: „Dieser Logik bedingter Menschenwürde widersprechen wir.“

Gleich zweimal gehen die Bischöfe in ihrem Schreiben auch auf das Leid derer ein, die unter einer vererbbaren Krankheit leiden. Gleich zu Beginn des Schreibens heißt es, diese verdienten „unsere Solidarität“. Wer dieses Leid jedoch durch PID zu umgehen suche, erzeuge „Leid bei anderen“. Betroffene müssten „mit der Vermutung leben, eigentlich nicht lebenswert zu sein.“ Diese „Diskriminierung“ ergebe sich „ganz unmittelbar“ mit der Zulassung der PID. „Mittelfristig“ könne sich dadurch auch „das Bild vom Menschen in unserer Gesellschaft nachteilig verändern.“ So wachse ein „Selbstverständnis, nach dem gelingendes Leben von gelingender Technik abhängig wird“ und „Krankheit nicht sein darf, wenn man sie prognostisch vermeiden könnte.“ Dadurch wachse eine „Haltung“, die es nahe lege, „behinderte Menschen abschätzig zu beurteilen“, wenn auch „nicht sofort“, so doch „mittelfristig“.

Dem gegenüber treten die beiden Bischöfe dafür ein, „dass das Leben, wie es mit seinen schönen und schweren Seiten aus Gottes Hand kommt, allen Menschen offen stehen soll.“ „Eine Auswahl von erwünschten Menschen, die gewollt werden, weil sie gesünder sind als andere“, schränke die „umfassende Anerkennung ein, die uns durch Gott geschenkt ist.“

Der Beitrag erschien zuerst in der katholischen Tageszeitung „Die Tagespost“ (Ausgabe vom 5. März 2011): www.die-tagespost.de.

IM PORTRAIT

Stefan Rehder

Stefan Rehder, geboren 1967 in Düsseldorf, ist Journalist und Sachbuchautor (2010: „Grauzone Hirntod – Organspende verantworten“) mit den Schwerpunkten Lebensrecht, Bioethik und Biomedizin. 2007 erschien sein Buch „Gott spielen – Im Supermarkt der Gentechnik“, in dem er sich auch mit der künstlichen Befruchtung, der PID und dem Fetozid auseinandersetzt.